Sonntag, 11. September 2022, 14.02 Uhr: Jacqueline Baumgärtel bringt den FSV Gütersloh im DFB-Pokalspiel vor über 2.000 Zuschauern gegen den mit Nationaltorhüterin Merle Frohms angetretenen Champions-League-Sieger VfL Wolfsburg mit 1:0 in Führung – die Tönnies-Arena bebt. „Ich kriege immer noch Gänsehaut, wenn ich daran denke“, blickt die 21-Jährige auch fünf Monate danach mit speziellen Emotionen auf das Highlight ihrer bisherigen Karriere als Fußballerin zurück. Dass die Partie gegen Popp, Oberdorf und Co. später mit 2:8 verloren geht, fällt da überhaupt nicht ins Gewicht.
Mit solch einem Erlebnis hatte Jacqueline Baumgärtel nicht gerechnet, als sie sich vor der Saison zum Wechsel nach Gütersloh entschloss. „Ich hatte anfangs sogar etwas Angst“, gesteht die vom Regionalligisten Spvg. Berghofen gekommene Angreiferin. Die höhere Spielklasse und die namhafte Konkurrenz im FSV-Kader („Damals wusste ich noch nicht, dass Annalena Rieke weggeht“) flößten ihr Respekt ein. Und vom Naturell her ist sie nicht der offensive Hoppla-jetzt-komme-ich-Typ, sondern eher defensiv ausgerichtet. „Früher war ich relativ schüchtern. Ich habe kaum einen Satz herausgebracht“, verrät sie. Das ist heute zwar anders, aber eine vor Selbstbewusstsein strotzende Lautsprecherin auf dem Platz ist sie deswegen noch lange nicht. Dabei hätte die pfeilschnelle Außenstürmerin durchaus Grund, tonangebend zu sein. Schließlich ist sie mit sechs Treffern die bislang beste Torschützin des FSV Gütersloh, wo sie sich trotz aller Bedenken sofort einen Stammplatz eroberte. „Das freut mich natürlich“, sagt Jacqueline Baumgärtel mit der für sie charakteristischen Zurückhaltung. Statt stolze Sprüche rauszuhauen, weist sie lieber daraufhin, dass es angesichts der vielen Chancen schon mehr Saisontreffer hätten sein können. Auch zuletzt gegen den SC Freiburg II: „Da bin ich zweimal mit hohem Tempo in den Strafraum und war dann etwas überfordert.“ Mal ehrlich: Welcher männliche Zweitligafußballer würde so offen sein? Sie selbst findet eine Aussage ihrer Berghofener Trainerin Laura Marienfeld annähernd treffend: „Laura hat gesagt: Immer wenn du aufs Tor zuläufst, hörst du klatschende Affen im Kopf.“ Gemeint ist: Sie lässt sich von der Situation ablenken und nervös machen.
Mit dem Fußballspielen begonnen hat Jacqueline Baumgärtel, die aus Heiligenrode stammt, als Vierjährige bei der TSG Sandershausen, einem anderen Ortsteil der östlich von Kassel gelegenen Gemeinde Niestetal. „Mein Papa war in der G-Jugend mein Trainer und hat mir vieles beigebracht.“ Im Grunde stammt sie aus einer Fußballerfamilie, denn die Mama war früher Torhüterin und auch der fünf Jahre ältere Bruder Pascal jagte dem Leder nach. Rasch wechselte sie zum KSV Baunatal, wo sie bis zur U16 bei den Jungen in der Abwehr spielte, ab 2015 lief sie mit Zweitspielrecht für die Mädchen von Hessen Kassel als Stürmerin auf. „Ich bin dafür, so lange wie möglich bei den Jungs zu spielen“, plädiert sie rückblickend für die inzwischen vom DFB favorisierte Talentförderung. Körperliche Robustheit und Nehmerqualitäten („Man ist nicht mehr so sensibel“) habe sie in Training und Spiel mit den Jungs erworben: „Und wenn man dann zu den Frauen wechselt, ist man nicht mehr die kleine Süße.“
Das Frauen-Zeitalter begann für sie 2019 beim Regionalligisten TSV Jahn Calden. 2021 erfolgte der Wechsel nach Berghofen. Nachdem es im Erstrundenspiel des DFB-Pokals eine 0:2-Niederlage gegen den FSV gab, belegte das von der Ex-Gütersloherin Laura Marienfeld trainierte Team Rang sechs in der Regionalliga und gewann den Westfalenpokal. Obwohl sie weite Teile der Hinrunde verletzt ausfiel, steuerte Jacqueline Baumgärtel 15 Treffer zum Erfolg bei. Der Anruf von Britta Hainke ließ nicht auf sich warten. „Es war immer mein Traum, mal 2. Liga zu spielen“, gab sie der FSV-Trainerin ihre Zusage, zumal das Team in Berghofen auseinanderfiel.
Der Wechsel passte auch gut zu ihrer beruflichen Situation. Jacqueline Baumgärtel absolviert im zweiten Lehrjahr in Soest eine Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement beim Entsorger „Remondis“, dem größten deutschen Unternehmen für Recycling, Wasserwirtschaft sowie kommunale und industrielle Dienstleistungen. Dass sie dort landete, war auch ein Stück weit Zufall, denn nach Realschulabschluss und Fachabitur in Kassel hatte sie „unzählige“ Bewerbungen geschrieben und von Remondis eine Zusage erhalten. Viel Herzblut hatte Jacqueline Baumgärtel zuvor in ein Freiwilliges Soziales Jahr gesteckt, das sie an einer Sonderschule für Schüler mit körperlichen Beeinträchtigungen absolvierte: „Das war eine mega Erfahrung, die kann ich jedem nur empfehlen.“ Nun wohnt sie in Lippstadt, arbeitet von 7 Uhr bis 15.30 Uhr und bildet anschließend zusammen mit der Lippstädterin Emilia Deppe eine Fahrgemeinschaft zum Training.
Nach dem Sieg über Freiburg ist die Stimmung im Auto wieder deutlich besser. „Wir waren in einem Tief, aber sind da hoffentlich jetzt wieder raus“, sagt die Torjägerin. Womöglich hat der Gedanke an die Bundesliga doch unbewusst gestört, auch wenn Jacqueline Baumgärtel erzählt: „Das Trainerteam hat uns gesagt, das Thema sollten wir erst gar nicht in den Hinterkopf gelangen lassen.“ Wie schätzt sie die Chance auf den Bundesliga-Aufstieg ein? „Schon hoch“, sagt sie voller Ehrgeiz. Sollt es klappen, wird sich „Baumi“, wie sie auf dem Platz kurzerhand gerufen wird, nur bedingt am Rummel in den Sozialen Medien beteiligen: „Ich schaue da rein, bin selbst aber eher weniger aktiv.“ Und dann sagt sie noch einen Satz, der bei ihr nicht nur für die Medienaktivität zutrifft: „Ich stelle mich nicht so gerne in den Vordergrund.“